Tuncer Bilgin, leitender Lean Manager bei Leidel & Kracht, bei der internen 5S Auditierung mit den Verantwortlichen.
16.06.2023 - Verpackungstechnik

“Meine Go-To-Gadgets im Lean Management sind Shadowboards, Kanban und das stetige Fragen nach dem ‘Warum’” – Tuncer Bilgin, Leiter Lean Management bei Leidel & Kracht, im Interview

Wie Leidel & Kracht die Schaumstoff- und Verpackungsherstellung effizienter gestaltet und für welche Unternehmen Lean Management die richtige Wahl ist.

Effizienz, Kontinuität, Verbesserung – will man Lean Management zusammenfassen, so kommt man an diesen drei Wörtern nicht vorbei. Tuncer Bilgin (im Bild bei der internen 5S-Auditierung mit den Verantwortlichen) ist seit November 2018 leitender Lean Manager bei Leidel & Kracht und konnte in dieser Zeit schon mehrere Maßnahmen für den Schaumstoffhersteller umsetzen.

Herr Bilgin, Sie sind seit 2018 für Leidel & Kracht als leitender Lean Manager tätig und verstehen Ihre Materie, als Lean Experte, sehr gut. Darum verzeihen Sie mir die fast lästerliche Frage zu Beginn: Was ist Lean Management und wieso ist das überhaupt wichtig?

Allgemein gesprochen ist Lean Management, oder übersetzt “schlankes Management", eine Methode zur kontinuierlichen Prozessoptimierung eines Unternehmens, bei der alle Mitarbeiter zum Erreichen gemeinsamer Ziele und Kundenbedürfnisse zusammenarbeiten. Dabei setzt man ganz oben in den Geschäftsprozessen an und nimmt alle Abteilungen mit – bis zum Versand. Dafür nutzt man den KVP, also den kontinuierlichen Verbesserungsprozess, in dem jeden Tag Probleme der Mitarbeiter aufgenommen werden. Mithilfe weiterer verschiedener Maßnahmen wie Kaizen und Shopfloor und 5S-Methode löst man diese.
Warum ist Lean Management nun aber wichtig? Ich reduziere damit Ineffizienzen in Prozessen. Ein Beispiel wären alle Arten von Verschwendungen im Unternehmen, also etwa Zeitressourcen oder auch materielle. Dadurch verbessert mein Unternehmen die Qualität vom fertigen Produkt, was wiederum dazu führt, dass sich die Kundenzufriedenheit erhöht.

Was versteht man unter der 5S-Methode?

Seiri (Sortieren / Selektieren), seiton (Ordnung / Systematisieren), seiketsu (Sauberkeit), seiso (Standisieren / Aufräumen) und shitsuke (Selbstdisziplin / Disziplin). Das sind die japanischen Begriffe der Prinzipgrundsätze im Lean Management. Ich sortiere, ordne und säubere also und bekomme damit automatisch Sicherheit. Da das oft missverstanden wird: Säubern heißt in dem Fall nicht putzen! Ich säubere den Prozess. Ich frage mich, was benötige ich? Welche Werkzeuge, Paletten und Behälter? Was muss ich immer griffbereit haben? Als nächstes systematisiere ich. In diesem Schritt kann ich zum Beispiel ein Shadowboard herstellen. Wenn ich etwa sage, für diese kleine Maschine brauche ich nur drei Arten von Werkzeugen, kann es im Prozess auch passieren, dass ich diese drei zu einem zusammenfasse, indem ich ein neues Werkzeug generiere. So schaffe ich aus dem System eine Struktur und dadurch dem Mitarbeiter automatisch mehr Sicherheit. Denn er weiß: Dieses Werkzeug gehört dahin, damit kann er das Problem beheben, es steht in seiner Arbeitskarte drin. Auf der anderen Seite weiß er aber auch, wenn es fehlt, dann muss er suchen. Sicherheit bekommt man im Lean Management außerdem, indem man den Boden markiert. Oder indem man in der Anlage beschriftet, wo wirklich nur gute Teile abgelegt werden und wo die Teile, die in Frage gestellt werden. Das fünfte S, shitsuke oder Disziplin, bedeutet, dass man Abläufe ständig hinterfragen und verbessern muss. Also fragt man sich im kontinuierlichen Verbesserungsprozess: Arbeiten wir noch nach 5 S? Haben wir einen Standardablauf als autarkes System? Haben wir passende Spielregeln? Oder haben wir alles verworfen, weil es nicht nachhaltig implementiert wurde?

Welche konkreten Maßnahmen konnten Sie bei Leidel & Kracht seit 2018 schon umsetzen?

Einiges, denn wir haben eine komplette Anlage sozusagen “leanearisiert”. Wir haben sie also lean-gerecht aufgebaut und alle denkbaren Prozesse implementiert. Wenn Sie jetzt in die Anlage gehen, erkennen Sie das daran, dass auch bei uns alles gekennzeichnet ist: Wir haben Bodenmarkierungen und Beschilderungen, die den Mitarbeitern sagen “Hier darf etwas abgestellt werden” oder eben “Hier nicht”. “Hier gehören nur die guten Teile hin.” und “Hier liegen die schlechten Teile”. Natürlich findet man bei Leidel & Kracht auch an jeder Ecke Shadowboards. Die sind einfach sinnvoll, damit die Mitarbeiter ohne Probleme und langes Suchen genau wissen, welche Werkzeuge auf welchen Platz gehören. Die Shadowboards zeigen aber auch, dass die darin gruppierten Werkzeuge zur Problemlösung an der jeweiligen Maschine gehören. Da Leidel & Kracht die mehrfarbigen Schaumstoffeinlagen für Kunden ja sowieso fertigt, war es für uns nur logisch, sie auch selbst sehr stark in den Einsatz zu bringen. Für einen schlanken Prozess sind Shadowboards einfach unverzichtbar.
Um ein Beispiel für ein sehr erfolgreiches Projekt zu nennen, gehe ich mal zurück zu meiner Anfangszeit bei Leidel & Kracht. Da fragte mich die Musterbauabteilung nämlich nach einer Idee, damit sie nicht immer hinter den Mustern herlaufen müssen. Durch die Ist-Aufnahme habe ich herausfinden können, dass wir gar keine Transparenz im Musterbau hatten, die Muster in der Produktion quasi unsichtbar waren, und die Kunden sie deshalb zu spät erhalten haben. Die Mitarbeiter mussten immer durch vier Abteilungen gehen, um den Stand zu erfahren: Da hat der Vertrieb den Musterbau angesprochen, der Musterbau hat dann die Produktion angesprochen, der Produktionsleiter hat den Vorarbeiter angesprochen und der Vorarbeiter ist dann zur Maschine gegangen und hat geguckt, was mit dem Muster ist. Das war zum einen sehr ineffizient, zum anderen natürlich auch ärgerlich, denn jedes Muster ist ein potentieller Kundenauftrag und wenn der Kunde das Muster viel zu spät bekommt, überlegt er es sich vielleicht noch einmal. Darum ist der ganze Vorgang jetzt nur noch ein Klick. Das heißt, ich klicke an meinem Computer auf den Stand des Musters und sehe direkt, wie die Entwicklung gerade ist. Wir haben hier also für mehr Transparenz gesorgt. Die Mitarbeiter wissen jetzt direkt, was der Stand von dem Muster ist und können frühzeitig erkennen, ob es ein Problem geben wird. Das hat zur Folge, dass wir jetzt als langfristigen Erfolg keine Verspätung mehr von den Mustern haben.

Ich höre heraus, Sie haben auch viel digitalisiert?

Genau, in den Anlagen haben wir uns auch sehr stark auf die Digitalisierung konzentriert. Ein weiteres Beispiel aus dem Musterbau: Hier sind Mitarbeiter, die die Kundenmuster freigeben mussten, mit ihrem Bauteil immer in die jeweiligen Abteilungen gelaufen und haben dort willkürliche Mitarbeiter als Ansprechpartner gehabt. Das haben wir umgekehrt: Während der Mitarbeiter effizient an der Anlage arbeitet, macht er einen Klick und die Abteilung wird informiert. Dann kommt der notwendige, qualifizierte Mitarbeiter, der wiederum auch mit jemandem redet, der an der Anlage geschult ist. Das heißt im Lean Management Genchi Genbutsu, übersetzt “Gehe zum Ort des Geschehens”. Die verantwortlichen Mitarbeiter aus den Abteilungen gehen raus an die Maschinen und gucken sich die Begebenheiten an. Dafür haben wir Levelkarten aufgebaut, Qualifikationsmatrizen. Und unser Shopfloor mit dem Kanban-Board und dem KVP ist natürlich auch digital geworden.

Wie macht sich das in Zahlen bemerkbar?

Die Maßnahmen in der Anlage haben sich bei uns sehr gut bewährt. Die Anlage ist 2019 neu eingetroffen und wir haben uns direkt alle Gegebenheiten angeguckt und geprüft, wie wir diese Maschine in das Lean Management integrieren. Nach einem Stillstand der Anlage haben wir, Stand heute, eine effektive Verfügbarkeit von über 70 %. Genauer gesagt 73 %. Das ist toll, zeigt im nächsten Schritt aber auch, wie viel Potential diese Maschine noch hat.

Jetzt haben wir viel über die Vorteile gesprochen. Gibt es denn auch Nachteile im Lean Management?

Ich würde jetzt gerne “Nein” antworten, aber natürlich gibt es auch Nachteile. Es ist nämlich nicht immer so leicht, Lean Management in einem Unternehmen zu implementieren. Man muss sehr darauf achten, nicht zu schnell vorzugehen. Wenn ich nämlich hingehe und den Mitarbeitern Handys und Tablets in die Hand drücke und sage “Du musst das klicken und jetzt hier klicken”, dann hole ich sie zu schnell aus ihrer Komfortzone raus und überfordere sie vielleicht. Das zeigt sich dann darin, dass sie unglückliche Fehler machen, schlechtere Teile produzieren oder langsamer werden. Und dann gibt es einen Stopp durch den Vorgesetzten, weil er mitbekommt, dass seine Leute nicht mitkommen. Die Vorgesetzten sind sowieso sehr wichtig, denn erst wenn ich sie von dem überzeugen kann, was wir als Lean Management-Abteilung vorhaben, bekommen wir auch die nötigen Ressourcen. Dafür braucht man viel Fingerspitzengefühl, weil die Abteilungen unter Umständen an ihrem Umsatz gemessen werden und der geht, sobald wir als Lean Management-Abteilung reinkommen, erstmal nach unten, weil wir Ressourcen beanspruchen. Denn wir brauchen die Mitarbeiter, machen kleine Workshops mit ihnen und setzen dann Kaizen-Wochen ein. Darum hat Lean Management auch immer viel mit Vertrauen zu tun.

Welche Lean Management-Maßnahmen sind Ihre Go-Tos? Womit fängt man vielleicht am besten an?

Den Anfang macht man am besten damit, dass man in der Abteilung für Unruhe sorgt, indem man immer wieder “Warum” fragt. Dabei darf man nicht beim ersten “Warum” aufhören, sondern muss weiterbohren und hartnäckig bleiben. Ein einfaches Beispiel aus unserer Produktion: Es fehlten immer Besen. Darum bin ich hingegangen und habe gefragt: Warum fehlt der Besen? “Die andere Abteilung hat ihn.” Warum hat ihn die Abteilung? “Keine Ahnung.” Also bin ich in die andere Abteilung gegangen und habe wieder “Warum” gefragt. “Weil ich selber keinen habe, weil meiner verschwunden ist.” “Warum ist deiner verschwunden?“ “Weil er wahrscheinlich nicht auf seinem eigentlichen Platz abgelegt wurde.“ “Warum nicht?“ “Weil jeder ihn woanders abstellt.“ “Was könnte man machen, damit so eine Situation nicht wieder entsteht?“ “Einen Platz festlegen und Shadowboards dafür machen.“ Problem gelöst. 
Seitdem wir die Shadowboards haben, fehlt der Abteilung, in der wir 5S eingeführt haben nichts mehr. Natürlich war bei uns am Anfang auch Chaos, trotz der Shadowboards. Mittlerweile aber nicht mehr, weil wir mit dem nötigen Ernst dabei waren und eben nicht gesagt haben “es ist nur ein Besen”, sondern “es behindert den Prozess und führt zu Verzögerungen”. Dahinter gibt es jetzt Verantwortlichkeiten: Jemand ist verantwortlich für die Abteilung und kontrolliert, dass am Anfang der Schicht alles an seinem Platz zu finden ist. Darum sind Shadowboards eines meiner Lieblingsgadgets. Genauso wie die Kanban-Boards als agile Methode auf unserem Shopfloor. Darauf sind die digitalen Kanban-Tickets, die bei Erledigung oder bei Rückfragen verschoben werden, und der Abteilungsleiter sieht direkt, welche Probleme es in der Abteilung gibt. Bevor wir die Kanban-Boards hatten, hat die Instandhaltung immer dreckige Maschinen gemeldet. Sie konnte nicht mit der Wartung beginnen, weil vorher erst Probleme beseitigt werden mussten. Daraus haben wir ein kleines Lean-Spiel gemacht: Wir haben die vier häufigsten Problembilder von der Instandhaltung aufgehängt und gesagt, das sind No Gos. Wenn nun eins davon auftritt, schreibt die Instandhaltung ein Ticket für den Abteilungsleiter, der dann die Möglichkeit hat, das Problem zu beseitigen, während die Maschine steht. Das funktioniert super und die Maschinen sind nach der letzten Schicht der Woche immer in einem Topzustand. Darum haben sie jetzt weniger Stillstand und sind viel häufiger für die Produktion verfügbar.

Wem würden Sie Lean Management empfehlen? Sind die Methoden für alle praktikabel?

Ich persönlich finde Lean Management in den Unternehmen sehr wichtig, die wettbewerbsfähig bleiben möchten. Die sich den Marktbedingungen anpassen müssen, das aber auch wollen. Das geht von größeren Unternehmen über mittelständische bis zu kleinen Unternehmen. Tatsächlich ist Lean Management auch im ganz Kleinen wirklich praktisch. Zum Beispiel im eigenen Zuhause! Meine Frau und ich haben sogar unseren Vorratsschrank nach der 5S-Methode aufgebaut. Wir haben die Regale beschildert: Die Dinge, die am meisten “verkauft” also von uns benutzt werden, kommen in das eine Regal. Die, die nicht so ganz häufig benutzt werden, kommen ganz oben rein. Ehrlicherweise war meine Frau erst nicht so angetan von der Idee, doch ich konnte sie überzeugen und jetzt ist sie tatsächlich begeistert! Im Zuge der kontinuierlichen Verbesserung haben wir nämlich auch eine App angeschlossen: Sobald ich etwas entnehme und merke, das Produkt geht in den Leerlauf, wische ich es in der App sofort in die Einkaufsliste und muss für den Wocheneinkauf keine Einkaufsliste mehr schreiben. Da spart man sich also einen Schritt bzw. seine Zeitressourcen und macht auch die eigenen Prozesse effizienter.

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg!

Sie haben Interesse, selbst mit Ihrem eigenen individuellen Shadowboard in das Abenteuer Lean Management zu starten? Kontaktieren Sie uns!

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